15.7.2020

Interview mit dem kroatischen Außen – und Europaminister, Dr. Gordan Grlić-Radman.

Interview mit dem kroatischen Außen – und Europaminister, Dr. Gordan Grlić-Radman, Autor: Dr. Klaus Fiesinger, Regionalleiter Südosteuropa

Wie die bisherige kroatische EU-Ratspräsidentschaft und der EU-Westbalkan-Gipfel in Kroatiens Hauptstadt Zagreb eingeschätzt wird, zeigen folgende beiden vom Regionalbüro der Hanns-Seidel-Stiftung in Zagreb durchgeführten Interviews hinsichtlich einer politischen Bewertung durch den kroatischen Außen- und Europaminister Dr. Gordan Grlić-Radman, und hinsichtlich einer Bewertung aus wissenschaftlicher Sicht durch Dr. Sandro Knezović vom „Institut for Development and International Relations“ (IRMO), Kooperationspartner der HSS in Zagreb.

HSS: Herr Minister, wie würden Sie angesichts der
Corona-Virus-Pandemie und der schwierigen Bedingungen, unter denen gerade die kroatische Ratspräsidentschaft stattfindet, die Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten bewerten? Es hat ja verschiedentlich Vorwürfe gegeben, die Mitglieder seien zu sehr auf sich selbst konzentriert? Wie würden Sie die EU-Haltung gegenüber den Ländern Südosteuropas beurteilen?

Dr. Gordan Grlić-Radman: Als wir den Slogan der kroatischen Ratspräsidentschaft "Starkes Europa in einer Welt voller Herausforderungen" wählten, konnten wir uns nicht einmal vorstellen, dass wir neben den bestehenden Herausforderungen vor einer Herausforderung von beispiellosem Ausmaß stehen werden, die durch die Covid-19-Pandemie verursacht wurde. Als Reaktion auf die Covid-19-Krise aktivierte die kroatische Ratspräsidentschaft den Mechanismus „Integrierte Regelung für die politische Reaktion auf Krisen“. Nach dem Ausbruch der Pandemie erörterte der EU-Rat im Rahmen von Video-Konferenzen auf Ebene verschiedener Minister, wie man der Krise in den verschiedenen Sektoren begegnen kann, setzte aber auch die Gespräche über andere Problempunkte der EU fort. Ich möchte insbesondere den Beschluss des EU-Rates über die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nord-Mazedonien hervorheben sowie den Beschluss über die Aufnahme der Verhandlungen mit Großbritannien über eine neue Partnerschaft mit der EU. Als Reaktion auf die Corona-Krise wurde darüber hinaus im Gesundheitsbereich die Beschaffung von Medizinprodukten intensiviert. Die Erleichterung des Verkehrs und der konsularischen Zusammenarbeit sowie die erfolgreiche Rückführung tausender Kroaten und anderer EU-Bürger in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) sind weitere markante Punkte. Die Ratspräsidentschaft hat in Zusammenarbeit mit den Institutionen der EU die Kontinuität des Gesetzgebungsverfahrens innerhalb der EU sichergestellt und zur Annahme von Finanzpaketen beigetragen, mit denen die sozioökonomischen Folgen der Pandemie gemindert werden.

Anfang Mai nahm Ministerpräsident Andrej Plenković zusammen mit etwa 30 anderen Staats- und Regierungschefs an der „Internationalen Geberkonferenz für die globale Reaktion auf Covid-19“ unter dem Vorsitz der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, teil, bei der etwa 50 Länder vertreten waren. Bei dieser Konferenz wurden bereits am ersten Tag 7,4 Milliarden Euro gesammelt. Neben den bereits über die „Kroatische Stiftung für Wissenschaft“ gesicherten 14 Millionen Kuna stellt Kroatien eine weitere Million Euro für die Forschung und Entwicklung von Impfstoffen und für die Behandlung von Covid-19 Erkrankung zur Verfügung. Dies spricht für das Bewusstsein in der EU, dass diese Krise nur gemeinsam mit den Partnern aus aller Welt überwunden werden kann.

Gleichzeitig hat die EU aber auch ihre unmittelbare Nachbarschaft nicht vergessen. Die Hilfe, die die EU den Ländern des westlichen Balkans für humanitäre und gesundheitliche Zwecke und zur Abschwächung der sozioökonomischen Folgen der Covid-19-Pandemie geleistet hat, ist von kolossalem Ausmaß und zeugt von einem starken Engagement in diesen schwierigen Zeiten. Dies ist eine klare Botschaft der Solidarität der Europäischen Union mit den betroffenen Ländern Südosteuropas, aber auch der Sorge um die Sicherheit und Stabilität des gesamten europäischen Kontinents. Dementsprechend hat die Regierung der Republik Kroatien auf Ersuchen Albaniens, Bosnien und Herzegowinas und Montenegros auf Vorschlag des Ministeriums für auswärtige und europäische Angelegenheiten beschlossen, humanitäre Hilfe zur Bekämpfung von Covid-19 zu leisten.

Andererseits befanden wir uns aufgrund des starken Erdbebens in Zagreb während der Ausbreitung der Pandemie selbst in einer Situation, in der uns jede Hilfe viel bedeutete. Aus diesem Grund haben wir beschlossen, in gegenseitiger Solidarität unseren Nachbar- und befreundeten Ländern entsprechend unseren derzeitigen Möglichkeiten zu helfen. Und bei unseren EU-Partnern haben wir uns für die Aufhebung der Verpflichtung zur Einholung von Ausfuhrgenehmigungen für persönliche Schutzausrüstung für die Länder des West-Balkans eingesetzt, sodass seit dem 26. April persönliche Schutzausrüstung frei aus der Europäischen Union in die Länder des West- Balkans exportiert werden kann. All dies ist eine wichtige Botschaft für den West-Balkan, dass Kroatien und die Europäische Union auch in diesen schwierigen Zeiten zu ihnen stehen und dass gemeinsame Maßnahmen erforderlich sind, um die Folgen dieser Pandemie so schnell wie möglich zu überwinden.

Die EU ist ein unverzichtbarer Rahmen, der unseren Bürgern angesichts solcher Herausforderungen mehr Sicherheit und Wohlstand bietet und gleichzeitig unsere europäische Lebensweise und unsere Werte schützt. Die kroatische Ratspräsidentschaft spielt in dieser Hinsicht eine äußerst positive und konstruktive Rolle, indem sie mit den EU-Institutionen und anderen Mitgliedstaaten zusammenarbeitet und die Einheit, Solidarität und Beständigkeit der EU kontinuierlich stärkt.

HSS: Wie beurteilen Sie den Erfolg des virtuellen Zagreber EU-Westbalkan-Gipfels angesichts der Erwartungen zu Beginn der Ratspräsidentschaft?

Die Kommunikation per Videokonferenz während der Covid-19-Pandemie ist jetzt unsere neue Realität. Wir freuen uns, dass es der Europäischen Union unter kroatischer Ratspräsidentschaft vor dem Hintergrund der neuen Umstände gelungen ist, die Kontinuität der Arbeitsweise und die Entscheidungsfähigkeit innerhalb des Rates der Europäischen Union sicherzustellen. Die vorübergehende Änderung der Geschäftsordnung des Rates ermöglichte die Beschlussfassung im Umlaufverfahren sowie den Meinungsaustausch auf Minister- und anderer Ebene in Form von Videokonferenzen. Auf diese Weise haben wir 27 Videokonferenzen auf Ministerebene organisiert. Mit diesem Verfahren wurde auch der Beschluss über die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nord-Mazedonien gefasst.

Wir haben zu keinem Zeitpunkt darüber nachgedacht, den EU-Westbalkan-Gipfel beziehungsweise den Zagreber Gipfel, der wirklich das zentrale Ereignis unserer Präsidentschaft darstellt, nicht abzuhalten. Wir wollten 20 Jahre nach dem ersten Zagreber Gipfel im Jahr 2000, bei dem Südosteuropa die Aussicht auf die EU-Mitgliedschaft erstmals eröffnet wurde, eine ebenso starke politische Botschaft senden.

Mit dieser Veranstaltung haben wir den Ländern des West-Balkans unsere Unterstützung bekundet, weil wir der Ansicht sind, dass es im Interesse Kroatiens liegt, dass sie die EU-Kriterien erfüllen und unserem Weg und unserem Beispiel folgen. Daher ist dieses Thema im Kontext unserer Präsidentschaft aus kroatischer Sicht eine Erfolgsgeschichte und wir glauben, dass dieser Gipfel und der Konsens über die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nord-Mazedonien eine Art politisches Erbe unseres Vorsitzes im Rat der Europäischen Union sind. Alle Staats- und Regierungschefs der Länder Südosteuropas stimmten der Erklärung von Zagreb zu und akzeptierten sie ebenso wie die 27 EU-Mitgliedstaaten. Dies ist ein großer kroatischer Erfolg und der Zagreber Gipfel selbst ist die Krone unserer Ratspräsidentschaft. Die Erklärung von Zagreb zeigt, dass Kroatien die Initiative ergriffen und die europäische Perspektive unserer Nachbarschaft gestärkt hat. Kroatien wird darauf bestehen, dass die Länder des West-Balkans bei der Umsetzung der Reformen, bei der Erfüllung der Kriterien und bei der Erreichung der Standards die in der Zagreber Erklärung angegebenen Auflagen im Sinne ihrer europäischen Zukunft verwirklichen.

HSS: Herr Minister, wie danken Ihnen für das Gespräch.

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